Ein Auftrag, der den Auftraggeber eigentlich nicht interessieren kann. Der auch Selb im Grunde nicht interessiert und in den er sich doch immer tiefer verstrickt. Merkwürdige Dinge ereignen sich in einer alteingesessenen Schwetzinger Privatbank. Die Spur des Geldes führt Selb in den Osten, nach Cottbus, in die Niederlagen der Nachwendezeit. Ein Kriminalroman über ein Kapitel aus der jüngsten deutsch-deutschen Vergangenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Rentner mit angeknackstem Selb-Bewußtsein
Bernhard Schlinks rasanter Krimi / Von Burkhard Scherer
Gerhard Selb, den seine Freundin und seine Freunde "Gerd" nennen, ist nach eigenen Angaben "über siebzig", sähe aber gern aus wie sechsundsechzig. Genaugenommen geht er stramm auf die achtzig zu, denn achtundsechzig war er schon vor neun Jahren, als er nach der Studentin Leo Salger (in "Selbs Betrug") suchte, und wer wie er 1942 als Staatsanwalt anfing, der gehört heute schon zu den Senioren. Für die beiden Jugendgangs, die sich seiner auf dem oberen Bahnsteig des Berliner U-Bahnhofs Hallesches Tor im Abstand von zwei Tagen annehmen, ist die Tatsache, daß es sich bei Privatdetektiv Selb um einen älteren Herrn handelt, ohne Bedeutung. Sie werfen ihn in den Landwehrkanal. Das erste Mal, weil er nach der Meinung der jungen Nazis den deutschen Gruß nicht korrekt entbot. Für die zweite Gang reicht auch der vorhergehende nichtkorrekte Gruß als Strafanlaß aus, um ihn ein weiteres Mal in den Landwehrkanal zu expedieren, denn "Wir sind die Antifa!"
Die doppelte Demütigung muß verarbeitet werden. Für den Körper tut es Penicillin als Mittel gegen die feuchtigkeitsbedingte Erkältung, das seelische Trauma aus der Begegnung mit den Neonazis und ihren Antagonisten währt länger, da er schon die Begegnung mit den Original-Nazis hatte, und zu deren großer Zeit mußte niemand den jungen Staatsanwalt zwingen, dem Führer zu huldigen. "Ich hatte die Gelegenheit gehabt, richtig zu machen, was ich seinerzeit falsch gemacht hatte. Wann hat man das schon! Aber ich habe es wieder falsch gemacht." Das Wissen um die verpaßten Gelegenheiten bleibt als Stachel und Quelle eines melancholischen Grundtones: "So ist das. Man macht dies, man macht das, und auf einmal war's ein Leben."
Das von Selb wäre schon zu Ende, sein Bericht über seine Ermittlungen rund um das Schwetzinger Bankhaus Weller und Welker also nicht zu haben, hätte er nicht gegen Ende der Affäre auch einmal richtig gehandelt, in sehr eigener Sache, bei einer Herzpanik. Da hat er den Notdienst angerufen, der ihn in die Intensivstation brachte.
Vielleicht war die erste verpaßte Gelegenheit schon, den Auftrag des Chefs des Schwetzinger Bankhauses, Bertram Welker, einfach abzulehnen, denn einleuchtend war dieser Auftrag nicht. Warum sollte er als Privatdetektiv eine Arbeit übernehmen, die eigentlich ins Historikerfach gehört, nämlich herauszufinden, wer denn der stille Teilhaber gewesen sei, der um 1880 der notleidenden Bank mit einer halben Million Mark beisprang? Und dies, damit der in der Festschrift zum Bankjubiläum Erwähnung finden könne? Andererseits akzeptierte Welker anstandslos Selbs Tarif, "hundert pro Stunde, plus Spesen". Und der Geschäftsgang vorher war mau gewesen, zuletzt hatte Selb für Tengelmann überprüft, ob die Krankmeldungen der Mitarbeiterinnen sauber waren. Selbs Anfangsverdacht jedenfalls, nicht korrekt über seine Rolle in einem schließlich fast ein Jahr währenden Spiel informiert worden zu sein, wird mehr als bestätigt. Bald schon ermittelt er nicht mehr für Geld, sondern aus Passion. Mehrmals wechselt schnell und überraschend das Bühnenbild, die vorher gemutmaßten Rollenzuschreibungen verblassen oder kehren sich um, und immer wieder steht Karl-Heinz Ulbrich vor Selbs Tür.
Der nun gerade. Jahre nach dem Mauerfall ist er unzweifelhaft als "Zoni" zu erkennen, war bei der Stasi und will nun hartnäckig, daß zusammenwächst, was seiner Meinung nach zusammengehört, er und sein Vater Gerhard Selb. Der kann nun vor sich und dem vermeintlichen Sproß darauf verweisen, daß er zum Zeitpunkt von dessen Zeugung keineswegs mit seiner Frau im Bett, sondern mit der Wehrmacht in Polen gewesen sei, andererseits "kannte ich die verbohrte Entschlossenheit in seinem Gesicht von Klara". Der Blick auf die verblichene Gattin muß also neu fokussiert werden wie mehrfach der auf den Auftraggeber, der schließlich zum Feind gerät und mit seinem "Die Vergangenheit, die Vergangenheit. Ich kann's nicht mehr hören", die menschliche wie philosophische Gegenposition zu Selb einnimmt.
"Selbs Mord" ist eine rasante Geschichte, auch eine den Titel rechtfertigende Tat wird touchiert. Trotzdem wirkt sie nie forciert. Das dürfte an den Ruhezonen liegen. "Alle Tage sind gleich lang, aber unterschiedlich breit", stand vor Jahren als Graffito an der Commerzbank in Gießen. Bei Bernhard Schlink sind alle Kapitel drei bis sechs Seiten lang, aber in ihnen geschieht mal ein Geiselaustausch samt Schußwechsel mit einem Toten und einem Schwerverwundeten, oder aber Selb ißt einfach mit einer gerade gekündigten ostdeutschen Bankchefin Kartoffeln mit Quark und trinkt dazu "Lausitzer Urquell". Die nach drei Romanen und einem Erzählungsband schon notorisch - und nur prima facie - schlichten Sätze des Juristen Schlink sind fast ebenso notorisch mit seinem Hauptberuf erklärt worden. Aber schreibt man da so? Gibt es auch in der Justizprosa so etwas wie ironisch-gourmethafte Bierrezensionen? Ist da nicht mehr Handwerk, hier aber eher Kunst? Und wo dort ganz überwiegend und aus gutem Grund meist nur Legalität diskutiert wird, hat Privatdetektiv Selb mit sich die oft fatalen Verschlingungen von Opportunität, Legitimität und Legalität zu verhandeln. Er macht das so, daß einen seine Überlegungen auch nach der Offenlegung des kriminalitätsbehafteten Geschehens lange weiter beschäftigen, weil sie in unaufdringlicher wie gültiger Weise von der Conditio humana handeln. So etwas macht ein Buch groß.
Bernhard Schlink: "Selbs Mord". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 266 S., geb., 39,88 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernhard Schlinks rasanter Krimi / Von Burkhard Scherer
Gerhard Selb, den seine Freundin und seine Freunde "Gerd" nennen, ist nach eigenen Angaben "über siebzig", sähe aber gern aus wie sechsundsechzig. Genaugenommen geht er stramm auf die achtzig zu, denn achtundsechzig war er schon vor neun Jahren, als er nach der Studentin Leo Salger (in "Selbs Betrug") suchte, und wer wie er 1942 als Staatsanwalt anfing, der gehört heute schon zu den Senioren. Für die beiden Jugendgangs, die sich seiner auf dem oberen Bahnsteig des Berliner U-Bahnhofs Hallesches Tor im Abstand von zwei Tagen annehmen, ist die Tatsache, daß es sich bei Privatdetektiv Selb um einen älteren Herrn handelt, ohne Bedeutung. Sie werfen ihn in den Landwehrkanal. Das erste Mal, weil er nach der Meinung der jungen Nazis den deutschen Gruß nicht korrekt entbot. Für die zweite Gang reicht auch der vorhergehende nichtkorrekte Gruß als Strafanlaß aus, um ihn ein weiteres Mal in den Landwehrkanal zu expedieren, denn "Wir sind die Antifa!"
Die doppelte Demütigung muß verarbeitet werden. Für den Körper tut es Penicillin als Mittel gegen die feuchtigkeitsbedingte Erkältung, das seelische Trauma aus der Begegnung mit den Neonazis und ihren Antagonisten währt länger, da er schon die Begegnung mit den Original-Nazis hatte, und zu deren großer Zeit mußte niemand den jungen Staatsanwalt zwingen, dem Führer zu huldigen. "Ich hatte die Gelegenheit gehabt, richtig zu machen, was ich seinerzeit falsch gemacht hatte. Wann hat man das schon! Aber ich habe es wieder falsch gemacht." Das Wissen um die verpaßten Gelegenheiten bleibt als Stachel und Quelle eines melancholischen Grundtones: "So ist das. Man macht dies, man macht das, und auf einmal war's ein Leben."
Das von Selb wäre schon zu Ende, sein Bericht über seine Ermittlungen rund um das Schwetzinger Bankhaus Weller und Welker also nicht zu haben, hätte er nicht gegen Ende der Affäre auch einmal richtig gehandelt, in sehr eigener Sache, bei einer Herzpanik. Da hat er den Notdienst angerufen, der ihn in die Intensivstation brachte.
Vielleicht war die erste verpaßte Gelegenheit schon, den Auftrag des Chefs des Schwetzinger Bankhauses, Bertram Welker, einfach abzulehnen, denn einleuchtend war dieser Auftrag nicht. Warum sollte er als Privatdetektiv eine Arbeit übernehmen, die eigentlich ins Historikerfach gehört, nämlich herauszufinden, wer denn der stille Teilhaber gewesen sei, der um 1880 der notleidenden Bank mit einer halben Million Mark beisprang? Und dies, damit der in der Festschrift zum Bankjubiläum Erwähnung finden könne? Andererseits akzeptierte Welker anstandslos Selbs Tarif, "hundert pro Stunde, plus Spesen". Und der Geschäftsgang vorher war mau gewesen, zuletzt hatte Selb für Tengelmann überprüft, ob die Krankmeldungen der Mitarbeiterinnen sauber waren. Selbs Anfangsverdacht jedenfalls, nicht korrekt über seine Rolle in einem schließlich fast ein Jahr währenden Spiel informiert worden zu sein, wird mehr als bestätigt. Bald schon ermittelt er nicht mehr für Geld, sondern aus Passion. Mehrmals wechselt schnell und überraschend das Bühnenbild, die vorher gemutmaßten Rollenzuschreibungen verblassen oder kehren sich um, und immer wieder steht Karl-Heinz Ulbrich vor Selbs Tür.
Der nun gerade. Jahre nach dem Mauerfall ist er unzweifelhaft als "Zoni" zu erkennen, war bei der Stasi und will nun hartnäckig, daß zusammenwächst, was seiner Meinung nach zusammengehört, er und sein Vater Gerhard Selb. Der kann nun vor sich und dem vermeintlichen Sproß darauf verweisen, daß er zum Zeitpunkt von dessen Zeugung keineswegs mit seiner Frau im Bett, sondern mit der Wehrmacht in Polen gewesen sei, andererseits "kannte ich die verbohrte Entschlossenheit in seinem Gesicht von Klara". Der Blick auf die verblichene Gattin muß also neu fokussiert werden wie mehrfach der auf den Auftraggeber, der schließlich zum Feind gerät und mit seinem "Die Vergangenheit, die Vergangenheit. Ich kann's nicht mehr hören", die menschliche wie philosophische Gegenposition zu Selb einnimmt.
"Selbs Mord" ist eine rasante Geschichte, auch eine den Titel rechtfertigende Tat wird touchiert. Trotzdem wirkt sie nie forciert. Das dürfte an den Ruhezonen liegen. "Alle Tage sind gleich lang, aber unterschiedlich breit", stand vor Jahren als Graffito an der Commerzbank in Gießen. Bei Bernhard Schlink sind alle Kapitel drei bis sechs Seiten lang, aber in ihnen geschieht mal ein Geiselaustausch samt Schußwechsel mit einem Toten und einem Schwerverwundeten, oder aber Selb ißt einfach mit einer gerade gekündigten ostdeutschen Bankchefin Kartoffeln mit Quark und trinkt dazu "Lausitzer Urquell". Die nach drei Romanen und einem Erzählungsband schon notorisch - und nur prima facie - schlichten Sätze des Juristen Schlink sind fast ebenso notorisch mit seinem Hauptberuf erklärt worden. Aber schreibt man da so? Gibt es auch in der Justizprosa so etwas wie ironisch-gourmethafte Bierrezensionen? Ist da nicht mehr Handwerk, hier aber eher Kunst? Und wo dort ganz überwiegend und aus gutem Grund meist nur Legalität diskutiert wird, hat Privatdetektiv Selb mit sich die oft fatalen Verschlingungen von Opportunität, Legitimität und Legalität zu verhandeln. Er macht das so, daß einen seine Überlegungen auch nach der Offenlegung des kriminalitätsbehafteten Geschehens lange weiter beschäftigen, weil sie in unaufdringlicher wie gültiger Weise von der Conditio humana handeln. So etwas macht ein Buch groß.
Bernhard Schlink: "Selbs Mord". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 266 S., geb., 39,88 DM.
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»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.«